Akupunktur in China

Mosaiken einer Fortbildungsreise



Die modernste Therapie in der deutschen Medizin ist 4000 Jahre alt. Sozusagen als Allheilmittel und Ausweg bei vielen Erkrankungen bietet unsere Zunft die Akupunktur an. Neue Ausbildungsstandards werden von den Gesellschaften festgelegt, 140 bis 350 Stunden sind ein Muss. Eine neue Kaste der erleuchteten Therapeuten schreitet durch das Land. Aus der Volksmedizin eines Milliardenvolkes wird die Medizin für die Wohlhabenden. Etwas irritiert bin ich schon. Seit etwa 20 Jahren übe ich die Akupunktur aus. Damals gab es 4 Kurse am Wochenende. Und den Rest musste man sich irgendwo aneignen. Üben, bei Kollegen hospitieren und wieder üben. Aber was macht einer mit dieser Qualifikation? Selbst die kleinen Krankenkassen fragen nach einem Zertifikat. Ich entschließe mich die Akupunktur dort zu vervollkommnen wo sie herkommt, eben in China. Ein Inserat im Ärzteblatt bestätigt meine Vermutung. Es geht! Ein Herr Tang in Kiel inseriert als Vermittler. Für 2 bis 3 Wochen bietet er praktische Tätigkeit in TCM Abteilung an der Uniklinik in China an. Das Ganze auch noch zu einem annehmbaren Preis. Meine Entscheidung steht fest. Ich fahre hin. Es folgt ein Anruf, ein Fax und ich bekomme ein Flugticket von München nach Shanghai über Paris zugeschickt. Am Flughafen in Shanghai wartet auf Sie Herr Prof. Ji, der erledigt den Rest, sagte mir Herr Tang am Telefon. Keine Unterlagen, keine Buchung, meine Frau hält mich auch für verrückt. Na ja, es wird schon schief gehen!

Am Samstag sitze ich im Flieger. Zuerst nach Paris, dann nach 4 Stunden Aufenthalt nach Shanghai. Nach 20 Stunden bin ich am Ziel. Geschafft! Ob der gute Prof. Ji auf mich wartet? Er ist tatsächlich da. Im guten Englisch sagte er mir, dass wir noch auf einen Kollegen warten. Nach 5 Minuten ist auch der Martin da. Wir sind vollständig. Das Abenteuer China kann beginnen.     

Eine Stunde dauert unser Transfer zum Zentrum. Shanghai ist keine Stadt, vielmehr eine neue Dimension mit 14 Millionen Einwohnern. In diesem Ameisenhaufen werden am Bahnhof unsere Koffer in Aufbewahrung genommen. In der Bude würde ich zu Hause nicht einmal ein Paar alte Schuhe abgeben, geschweige unser „Exklusivgepäck“. Martin zittert um seinen neuen Laptop. Nur der Prof. Ji lacht. Hoffentlich weiß er was er tut, meint Martin. Tapfer lächeln wir zurück und beginnen die Stadtbesichtigung. Nach der ersten Taxifahrt sind wir schweißgebadet und geschrumpft. Solche Fahrweise würde einen zu Hause den Führerschein kosten. Todsicher! Nach 3 Stunden Sightseeing sind wir wieder am Bahnhof. Das Gepäck ist noch da. Völlig fertig steigen wir in den Zug nach Hangzhou, der Stadt, wo wir unser Praktikum absolvieren werden. Es ist ein gemütliches 1.4 Millionen großes Städtchen. Eben eine chinesische Kleinstadt.


Die Chinesen reden gerne und laut, überall und mit jedem. Besonders gerne, meinen wir, mit Ausländern. Ein Europäer in Shanghai ist nichts Außergewöhnliches. In Hangzhou schon. Zuerst starren sie einen an, dann wollen sie wissen woher wir kommen. Das Wort Germany sagt den meisten nichts, Europa nicht viel mehr. Aber sie akzeptieren dass woanders auch Menschen leben. Auch wenn die komisch aussehen. Sie fragen uns ein Loch in den Bauch. Viele wollen wissen, ob Martin und ich Brüder sind. Nein, sind wir natürlich nicht! Außerdem sehen sie für uns alle auch so aus, als ob sie Brüder und Schwester wären.


Das Krankenhaus ist 5 Minuten von unserem Hotel entfernt. Ein kurzer Weg ist besonders in der Frühe wichtig. Bei den 6 Stunden, die uns Nacht für Nacht fehlen, sind wir für jede Minute die wir später frühstücken müssen froh und dankbar. Ob das Krankenhaus sehr groß ist kann ich nicht beurteilen. Die Menschenmassen sind es schon. Das Krankenhaus als Ameisenhaufen zu bezeichnen ist leicht untertrieben. Und wieder schauen sie einem nach. Manchmal ist es lustig, manchmal sogar schmeichelhaft. Alles in allen gewöhnt man sich daran. In der Ambulanz von TCM ist es, wie es nicht anders zu erwarten war, voll. In 3 kleinen Räumen stehen 9 Liegen, 6 kleine Tische mit Stühlen. Vier Ärzte, 5 Studenten, etwa 15 Patienten und wir beide mit Herrn Li als Dolmetscher komplettieren das Bild. An dieser Stelle ist Entschlossenheit und Kampfkraft gefragt. Ein Chinese baut nicht auf Höflichkeit des anderen. Er sichert sich selber den ihm genehmen Platz. Egal ob im Bus, Lokal oder im Krankenhaus. Wir haben rechtzeitig kapiert. Unsere Größe und Kampfgeist sichern uns den Platz in der 1- ten Reihe. Aus dieser Perspektive  können wir die Punkte und Nadelgrößen, jede mindestens 10 cm lang, richtig beurteilen. Und die chinesische Kollegin bohrt damit in der Tiefe herum, bis der Patient zuckt. Das „Chi“ in China ist gewaltig. Sind die Nadeln richtig platziert, gibt es 2 Alternativen. Entweder werden sie mit Abschnitten von Moxazigaren oder Reizstrom stimuliert. Nach einiger Zeit bietet die Ambulanz ein außergewöhnliches Bild. Auf den Liegen Patienten die an allen möglichen und unmöglichen Stellen „rauchen“ oder mit den Muskeln „zucken“. Überall sind Moxaschwaden trotz offenen Fenstern und laufenden Ventilatoren, die meisten reden und gestikulieren, die „Therapeuten“ treten sich gegenseitig auf die Füße. Erst gegen Mittag wird es ruhig. Wir sitzen mit freundlichen Kollegen zusammen und reden über die Patienten, Methoden, Behandlungserfolge. Es ist nicht immer einfach. Dolmetscher hin oder her, die Ansichten über Krankheit oder Gesundheit sind unterschiedlich. Irgendwie ahne ich Unheil. Gibt es zum Schluss noch zweierlei Akupunktur? Diese Frage wird mich noch beschäftigen.


Zahlreiche Gesprächspartner wollen den Grund, warum wir nach China kamen, wissen. Und erstaunlich viele können mit Akupunktur nicht viel anfangen. Diese Methode ist mehr auf dem Lande verbreitet. In der Stadt konzentriert man sich mehr auf den Fortschritt. Und dieser ist in der westlichen Medizin zu finden. Möglicherweise glaubt jeder an das, was er gerade nicht hat. Oder an das, was teuer ist? Eine Packung Schmerzmittel kostet das gleiche wie eine Akupunktur. Nur langsam, sehr langsam wird der Schatz der TCM in China gehoben.


Am Nachmittag ist Stationsarbeit angesagt. Ein Tross bestehend aus zwei chinesischen Kolleginnen, zwei Praktikanten und uns zwei mit Herrn Li als Dolmetscher setzt sich in Bewegung. Patienten mit Schmerzen, Schlaganfall, Inkontinenz oder Nierenversagen liegen bis zu acht Personen in einem Zimmer. Der Arzt ist für die Therapie, die Schwester für die Medikamente und medizinisches und die Angehörigen sind für die Pflege zuständig. An jedem Bett sitzt ein Familienmitglied. Er wäscht, füttert und versorgt den Patienten. Jeder redet mit jedem- langweilig ist niemanden. Wir sind eine willkommene Abwechslung. Es tut sich wieder etwas. Wir zwei Langnasen, die  Brüder sein könnten, fassen uns das Herz. Mit einer langen Akupunkturnadel in der Hand treten wir an das Patientenbett. Diese 10 cm im Körper des Patienten bis zum Chi sind lang. Und treffen tun wir auch nicht jedes Mal. Frau Lin, die Oberärztin, schaut geduldig zu, korrigiert die Nadeln, erklärt die Therapie. Danach werden die Nadeln wieder verkabelt und mit Strom stimuliert oder gemoxt. In 20 Minuten kommen wir wieder. Der Nächste bitte!


Die Chinesen sind Pragmatiker. Die Erfolge sind es, die zählen. Auch in der Medizin und TCM. Wir haben gelernt, dass verschiedene Therapiemethoden sich gegenseitig abschwächen können. Ein Akupunkteur erträgt es schwer, dass der Patient noch irgendwelche Tabletten nimmt, Massagen oder andere Therapie mitmacht. Beim Homöopathen muss sich der Betroffene jeden Schluck Tee extra genehmigen lassen. Es könnte seine Therapie stören. Für solche Ausführungen meinerseits haben unsere chinesischen Kollegen nur ein Lächeln übrig. Schon wieder die bohrende Frage in mir. Ist TCM das was die machen oder das was wir darunter verstehen? Egal! Irgendwo werden wir uns schon treffen.


Fast nach jeder Akupunktur wird geschröpft. Mit Bambusbecher und einem brennenden Tupfer in der Hand ist es immer ein Erlebnis. Ein Schröpfbecher nach dem anderem, mindestens zehn an der Zahl, werden aufgesetzt. Jetzt tun wir uns leichter. Entweder blutende Akupunkturpunkte oder tiefblaue Hämatome der Vorbehandlung weisen uns den richtigen Platz. Es macht richtig Spaß. Kein Patient klagt über die blauen Stellen. Hauptsache es hilft. Wie gesagt, ein Volk von Pragmatiker!


Die Chinesen lieben Massagen. Der beste Ort diesem Vergnügen zu frönen ist ein Frisörgeschäft. Es nicht auszuprobieren wäre eine Sünde. Also gehe ich hin. Vorher lasse ich mir auf Chinesisch aufschreiben was ich will, nämlich Haare waschen- Kopf- und Rücken massieren- Haare schneiden. Nur Mut! Dann beginnt die Prozedur. Das Shampoo wird in meine Haare einmassiert, der Kopf im Liegen gewaschen danach der Nacken, Kopf und Rücken kräftig etwa halbe Stunde bearbeitet. Anschließend werden die Haare geschnitten, noch mal gewaschen und wieder wird der Kopf massiert. Ein Gedicht! Das wäre bei uns ein Hit. Und es würde schlagartig die Anzahl der Kopfschmerzpatienten mindestens halbieren. Es könnte auch eine Erklärung sein warum ich kein Kopfschmerzleidende in den 2 Wochen gesehen habe. Ich bezahle etwa 10 DM und schwebe aus dem Salon. Danach streiche ich das „Haare schneiden“ auf meinem Zettel und komme alle zwei Tage wieder. Wie gesagt, ein Hit!


Das nächste Zauberwort heißt Tuina. Vereinfach ist es eine Schmerzpunktmassage wie Shiatsu oder Triggerpunktmassage. Durchgeführt wird die Therapie von Ärzten. Warum zum Kuckuck wird in China Tuina von Ärzten gemacht? Schließlich haben die auch genug Masseure. Das will ich wissen. Also handle ich mit dem chinesischen Kollegen 5 Behandlungen aus. Soll er schauen wie er meine Kreuz- und Schulterschmerzen in den Griff bekommt. Ich lege mich auf den Bauch und er fängt an. Zuerst sanft, dann immer energischer massiert er meine wunden Stellen. Martin beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung und grinst. Ich versuche meine Regung nicht zu zeigen. Nach 20 Minuten stehe ich von der Liege auf. Nassgeschwitzt, meinen Körper sortierend handle ich noch einen Termin für den Martin aus.  Rein aus Rachsucht. Ich habe noch 4 Behandlungen vor mir. Schließlich will ich etwas lernen! Und warum die Tuina von Ärzten gemacht wird? Vermutlich weil man sich diese Folter von keinem Masseur gefallen lassen würde. Dazu braucht man schon eine Approbation!  


Am späten Nachmittag sitzen wir in der Ambulanz mit Frau Dr. Lin und Herrn Li als Dolmetscher. Eine Vorlesung extra für uns. Wir fangen mit der Diagnostik an. Zuerst die Pulsarten. Es gibt 3 verschiedene Arten an 3 Stellen gemessen macht also 27 Pulsarten. Es sind mir zu viele. Aber da gibt es noch die Zungendiagnostik. Veränderungen vorne, in der Mitte am Rand, hinten, Belege weiß, rot, dick, spärlich. Auch zu kompliziert. Völlig überfordert reiche ich der Kollegin mein Handgelenk und strecke meine Zunge heraus. Sie lächelt, tastet meinen Puls, betrachtet meine Zunge und kommt dann zur Sache. Als Diagnose teilt sie mir mit, dass meine Leber brennt, mein Puls ist schwach. Mein Yin ist geschwächt und außerdem habe ich Kreuzschmerzen. Ich muss mein Yin mit Kräutertabletten stärken und das bitte lebenslang. Mein Hirn arbeitet fieberhaft. Ist das der regelmäßige Wein der meine Leber zum Brennen brachte? Und das geschwächte Yin? Soll ich die Ursachen in der Familie oder im Praxisstress suchen? Darf ich etwas nicht essen? Oder soll ich von Anderem mehr essen oder trinken? Frau Lin lächelt nur. Scheinbar sind ihr die Gedankengänge einer Langnase suspekt. Ich soll nur die Pillen jeden Tag essen. Es wird mein Yin stärken und ich werde schon wieder. Hoffentlich finde ich in Deutschland eine Apotheke die es mir herstellt. Und hoffentlich sind keine Tigerpfoten oder Rattenschwänze dabei. Aber egal! Hauptsache mein Yin wird wieder.


Martin ist mein Fortbildungsmitstreiter. Er ist ein geselliger Gynäkologe aus Tuttlingen. Und er hat den Ehrgeiz möglichst vieles an Akupunkturwissen aus China mitzubringen. Um in der Nomenklatur der chinesischen Punkte durchzublicken hat ihm seine Frau mehrere Bücher eingepackt. Das kostet ihn mehr Trinkgeld beim Kofferschleppen. Dafür hat er immer das passende Buch dabei. Nur die chinesischen Kollegen richten sich nicht immer danach. Haufenweise stechen sie Punkte die nirgends eingezeichnet sind. Und wenn wir nachfragen, nennen sie den Punkt einen Extrapunkt. Was ein Extrapunkt ist haben wir trotz Martins hartnäckigen Nachfragen nicht herausgefunden. Also finden wir uns damit ab. Jedem Therapeuten seine Extrapunkte!   


Wie steht es mit dem chinesischen Krankheitsspektrum? Haben die Chinesen die gleichen Erkrankungen wie wir? Unter Kreuzschmerzen, HWS oder Schulterbeschwerden leiden sie zuhauf, Kopfschmerzen sind scheinbar seltener. Eine sehr häufige Diagnose ist der Schluckauf. Zuerst dachten wir, dass Schluckauf in China eine Umschreibung für Magenbeschwerden ist. Weit gefehlt. Es ist scheinbar wirklich eine chinesische Spezialität. Warum haben wir nicht herausgefunden. Liegt es vielleicht an der Psyche? Oder an der chinesischen Küche?


Böse Zungen behaupten, dass Chinesen alles essen was sie selber nicht aufisst. Als Ausländer braucht man sich aber keine Gedanken zu machen. Sie verschwenden ihre Kostbarkeiten nicht an Langnasen. Trotzdem ist die chinesische Küche gesünder. Es beginnt mit der Menge. Mit den Stäbchen nimmt man weniger auf und kaut gründlicher. Das Sättigungsgefühl stellt sich schneller ein. Außerdem wird zum Essen Tee und kein Alkohol getrunken. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auf Chinas Straßen begegnet man praktisch keinem Übergewichtigen. Erst seit der Zunahme der Fast Food Ketten laufen mehr „gut genährte“ Kinder herum. Ist es ein Fortschritt oder Fluch des Wohlstandes? 


Jetzt aber zurück zur Wissenschaft. Schließlich habe ich die Reise unternommen um die TCM zu verstehen. Bin ich der Wahrheit näher gekommen? Fakt ist, die Chinesen denken anders als wir. Selten sind sie bereit uns es so richtig zu erklären. Welche Krankenkasse oder Versicherung würde sich bei uns mit der Aussage des Patienten „es geht schon viel besser“ zufrieden geben? Mit einem nicht mit Ultraschall, Röntgen oder sonstigen Verfahren verifizierbaren Befund. Soviel Anarchie kann sich der westliche Doktor nie leisten. Und wer von uns möchte von den genannten Institutionen nicht ernst genommen werden? Solche laxe Einstellung könnte bis zur Exkommunizierung aus der Ärztekammer führen! Und wie soll man die Wirtschaftlichkeit nachweisen? Nein, so geht es wirklich nicht! Wir machen so wie bisher weiter. Und wenn der Patient es wünscht, na ja, dann machen wir eben TCM. Er ist selber schuld wenn ihm unsere High- Tech- Medizin nicht geholfen hat. Zum Glück bilden wir uns ständig weiter. 

Mein Resümee zum Schluss. Die TCM in China ist anders. Da wir in Kursen, egal ob 2 oder 6 Wochen, die eigene Kultur nicht ändern können, werden wir uns eine eigene TCM zurechtschnitzen. Das wissen auch die ewig lächelnden Chinesen, den sie halten uns für sel fleißig, sich selber aber für sel klug. Damit können wir leben. Mein Dank gehört allen die uns den Aufenthalt im Reich der Mitte zum Erlebnis haben werden lassen. Dem Vermittler Herrn Tang, der nicht bei der Reisebeschreibung übertrieben hat, dem Prof. Ji, der uns stets eine Stütze in diesem unbekannten freundlichen Land war, dem Herrn Li, der auch das zu übersetzen versuchte, was unsere Gesprächspartner dachten und uns auch in der Freizeit begleitete. Selbstverständlich auch allen Ärzten der TCM Abteilung die ihr Bestes taten, um uns die chinesische Medizin näher zu bringen. 


 Dr. med. D. Dobias